Barbara Barthelmes
Musikspezifische Raumkunst
Claudia Doderers Bühnenräume
Claudia Doderer ist von Haus aus Bühnen- und Kostümbildnerin. Dennoch greift diese Berufsbezeichnung, die traditionellerweise die Gestaltung der visuellen Dimension in Theater und Oper fasst, in ihrem Fall aus verschiedenen Gründen zu kurz. Wirft man einen Blick auf ihren umfangreichen Werkkatalog, der von einer unerschöpflichen Energie und Schaffenslust zeugt, wird ihre Unvoreingenommenheit verschiedenen Genres und Epochen gegenüber sofort deutlich: Klassisches Repertoire steht gleichberechtigt neben Zeitgenössischem. Paralleles Arbeiten in verschiedenen Sphären der Musik und des Musiktheaters prägt ihren Stil: Raumkompositionen für Ballette (zuletzt Festival Dances des balletttheaters münchen, November 2006), Raum-Inszenierungen für Opern (Undine von Albert Lortzing am Staatstheater am Gärtnerplatz in München, Dezember 2006 und L’Orfeo von Monteverdi am Opernhaus Halle, Februar 2007) und neue hybride Formen aus Konzert und Raumplastik (in Zusammenarbeit mit Gérard Grisey Le Noir de l’Etoile, 1990-92, mit Klaus Lang kirschblüten.ohr, MaerzMusik Berlin 2002, fichten., Graz 2006 und mit der Komponistin Lucia Ronchetti die Raum-Inszenierung Xylocopa violacea im Rahmen des Ultraschall-Festivals Berlin 2007).
Dieses bruchlose Gleiten von einem Genre ins andere basiert auf einer Verschiebung der Funktion des Bühnenraums: Weg von der Idiomatik des Gehäuses, dessen Inneres immer wieder anders eingerichtet wird, hin zu einer Auffassung von Raum als autonomem Gebilde, das der Sichtbar- und Hörbarmachung von Musik dient. In dieser anderen Auffassung vom Bühnenraum geht Claudia Doderer von einer räumlichen Wahrnehmung und Interpretation der Musik aus und bildet eine abstrakte, am Raum und seinen ihm eigenen Dimensionen orientierte Formensprache aus.
So wie in ortsspezifischer Klangkunst der Klangraum auf den speziellen Ort hin bezogen und von ihm ausgehend entwickelt wird, so formt Claudia Doderer Räume für bestimmte Musiken. In diesem Prozess verhält und bewegt sie sich eher wie eine Bildhauerin oder Architektin. Ihr Metier ist also ein Bereich, für den es noch keinen richtig passenden Namen gibt, der aber, vielleicht etwas umständlich, als musikspezifische Raumkunst umschrieben werden kann.
Auf der Suche nach Form
Fragt man Claudia Doderer nach ihrer Arbeitsweise, so wird man mit zwei verschiedenen Aussagen konfrontiert. Am Anfang jeder Arbeit stehe die Auseinandersetzung mit der Musik, das Hören. Und sie höre Musik plastisch, dreidimensional. In anderen Äußerungen ist vom Freilegen verschiedener Schichten die Rede, von einem Prozess fortschreitender Reduktion, davon dass sie konstruktivistisch vorgehe. Mit ‚konstruktivistisch’ ist zunächst, abgesehen von all den kunsthistorischen und ästhetischen Konnotationen, die Suche nach der Form gemeint. Einer Form oder einer Struktur, die weder illustrativ noch narrativ ist, die den Kern der Musik in einem Moment, in ihrer Struktur erfasst und die einen Raum eröffnet, in dem sich die Musik, der Tanz oder das musikalische Drama ereignen kann.
Der damit verbundene Abstraktionsprozess kann, muss aber nicht zwangsläufig in einer sukzessiven Reduzierung des Realen, konkret Bildlichen und Narrativen auf eine möglichst einfache geometrische Form bestehen. Er kann auch als eine Art Verdichtung der verschiedenen Ebenen vorgestellt werden, in der aus dem Gesamt der Informationen (Geschichte, kulturelle und historische Kontexte) und sinnlichen Eindrücke (Musik) ein Formeindruck entsteht. In diesem Sinne erklärt sich auch ihre spezifische Art der hörenden Annäherung an und Auseinandersetzung mit der Musik. Eine räumliche Wahrnehmung von Musik, die Imagination von architektonischen Konstruktionen, von beweglichen Formen, ornamentalen Mustern und Strukturen oder die eines bestimmten Farbeindrucks beim Hören ist nicht nur Ausdruck der strukturierenden, verarbeitenden Tätigkeit unseres Gehirns (oftmals beschrieben als synästhetisches Erleben oder intermodale Wahrnehmung), sondern auch Ausdruck dieses Strebens zur Form und damit der künstlerischen Arbeit selbst.
Ein weiterer Schritt in diesem Formfindungsprozess ist die Übersetzung des bildhaft-räumlichen Höreindrucks von der imaginierten Form in die tatsächliche, seine Visualisierung. In dieser Phase bevorzugt Claudia Doderer unter anderem das Medium des Aquarells, mit dem sie erste Entwürfe und Skizzen zeichnet und malt. Im Aquarell bewirken die lasierenden, mit Wasser angerührten Farbpigmente eine Transparenz, die den Malgrund durchscheinen lässt. Durch das Übermalen und Überlagern verschiedener nicht deckender Farbschichten entsteht eine implizite Räumlichkeit. Auch wenn synästhetisches Erleben subjektiv ist, ist zu vermuten, dass sie die Musik, den musikalischen Satz auch als etwas Geschichtetes wahrnimmt, als ein Kondensat verschiedener Schichten, das sich aus der Schicht des Tonraumes und der sich in ihm bewegenden Tonkonstellationen, Klanggirlanden und Akkorden, sowie der Schicht der Klangfarbe und der des Rhythmus zusammensetzt. So wie im Aquarell bestimmte Farbtöne bestimmend sind und immer weitere Schichten wie transparente Flächen übereinander gelegt werden, wird sie diese ‚zweidimensionalen’ Modelle später wieder in den Bühnenraum auffächern. Ein anderer Modus, sich einer musikspezifischen Raumform zu nähern, ist das Experimentieren mit verschieden geformten Flächen, vergleichbar mit der Anordnung von Flächen und Formen im Grundriss oder im Schnittmuster. Zweidimensionale Gebilde oder Formen werden dann durch Vergrößerung, durch Dehnung, Drehung, Kondensierung und Ausrichtung in Maß und Proportion in die Dreidimensionalität überführt. Auch dieser Prozess hat seinen Ausgangspunkt in der Musik, findet dort sein Format und ist oftmals Grundlage ihrer skulpturalen Raumkompositionen.
Diaphane Architekturen
Flächen, Farbe, Licht und Bewegung, auf diese Elemente reduziert Claudia Doderer zunächst ihr Vokabular, mit dem sie ihre Räume baut: Raum wird strukturiert oftmals ‚nur’ durch die Einrichtung und Ausrichtung einer einzelnen Fläche. Parallel ausgerichtete Flächen lassen ein Vorne und Hinten entstehen, je nach Position mit unterschiedlichen Ausmaßen und Ausdehnung. Diagonalen führen mitunter zu mehr Dynamik und Dramatik. Verstärkt durch Lichtführung und Ausleuchtung verschärfen sich die Konturen oder verschwimmen, entstehen mehr oder weniger ausgeprägte Schattenspiele, die sie vor allem in ihren Arbeiten fürs Ballett als bewegliche flüchtige Raummuster benutzt. Aber nicht nur Größe, Position und Richtung von Flächen in Kombination mit Licht und Farbe bestimmt ihr Raum bildendes Vokabular. Auch die Dichte und Struktur der verwendeten Materialien spielen eine Rolle. Mit Vorliebe verwendet Claudia Doderer diaphane Materialien, durchscheinende Stoffe, unterschiedlichste Gazen oder stark strukturiertes Material, grobmaschige Vorhänge, flexible, dehnbare und durchsichtige Folien u.v.m. In dem Ballett Frag den Tanz des Choreographen Philip Taylor (balletttheater münchen 2003) bewegten sich die Tänzer in einem Raum aus parallel voreinander gestaffelten unterschiedlichen Flächen. Quasi-suprematistisch überschnitten sich schwarze und weiße Felder, kontrastierten dunkle und sehr helle Raumsegmente, Licht und Schatten. Weitere Flächen aus grobmaschigem Material, farbig angeleuchtet, verliehen diesem strengen Raumgefüge Leichtigkeit und Dramatik zugleich. Mal in glühendes Rot getaucht, mal in abenddämmriges Gelb-Orange ließ sie in dem Ballett Sacred Spaces (balletttheater münchen 2006) von Philip Taylor zu Musik von Arvo Pärt einen magischen Raum entstehen, in dem die Tänzer wie Götter und Opferbringende zugleich dem Bühnenraum huldigten.
In Undine, der Märchenoper von Lortzing, deren Bühne und Kostüme sie am Staatstheater am Gärtnerplatz im Dezember 2006 gestaltet hat und die sie auch inszenierte, wurde der Bühnenraum, in dem vordergründig das Geschehen abläuft, an den vorderen Bühnenrand gerückt. Ein schmales Band nur war es, auf dem sich die Sänger und Darsteller bewegten vor einem Hindergrund, der sie wie Figuren aus einem Bilderbuch wirken ließ. Hier wurde das Märchen erzählt, spielte sich die Burleske ab, wurde Ironie bis in die kleinste Falte der Kostüme spürbar. Doch nicht ungebrochen. Die Wand, vor der sich alles abspielt, ist durchscheinend, je nach Lichteinfall mal mehr, mal weniger. Und dahinter eröffnet sich ein nicht begrenzter, unheimlicher Raum, Symbol für das Meer, dem Element, dem Undine verbunden ist. Claudia Doderer verdoppelt in ihrem Bühnenraum nicht die Erzählung, sondern bringt die Spezifik dieser romantischen Oper, ihre Brechung zwischen Märchenhaftem und Unheimlichem, in eine räumliche Artikulation. Erst dann können auch die Figuren burlesk, komisch oder sogar tragisch wirken. Es ist der Raum, der eine theatrale Situation schafft, der erst die Oper zum Spielen bringt.
Raum modulierende Skulpturen
Nicht selten sind skulpturale Gebilde Bestandteil der Raumformen Claudia Doderers. Allerdings nicht als additive Elemente, Dekoration oder Staffage. Sie wirken als Raummodulatoren. In und an ihnen bricht sich das Licht und bringt so eigentlich den Raumeindruck hervor, der dann durch eine entschiedene und ausgeklügelte Lichtchoreographie weiter komponiert wird. Das Licht wird allerdings als eigenständige Dimension aufgefasst und nicht zwangsläufig mit der Musik synchronisiert. Für Sheer Bravado (balletttheater münchen 2006), einem Ballett von Richard Alston zur Musik von Dmitri Schostakowitsch (Konzert für Klavier, Trompete und Streicher c-moll, op. 35) hat Claudia Doderer als auffälligen Bezugspunkt eine große filigrane Stahlskulptur geschaffen, die ihre Spannung aus dem Gegensatz von Konstruktion und Schwerelosigkeit bezog. Die Schweißpunkte waren noch sichtbar, was den Materialcharakter betonte, gleichzeitig aber auch den Eindruck des Fragilen erweckte. Zart schwingende, in den Bühnenboden auslaufende Streben ließen sie schweben und instabil erscheinen. Diese Skulptur befand sich links in das hintere Drittel versetzt, so dass sich durch die einzelne Ausrichtung der Streben diagonale Verspannungen in den Raum ergaben. Die Choreographie, die in den Raum eingeschriebenen Bewegungsformen und Bewegungsabläufe, gerannen in diesem luzide gestalteten Raum deutlich sichtbar zum Raum mitkonstituierenden beweglichen Ornament. Die Skulptur übernahm dabei mehrere Funktionen: Sie gab Richtungen vor, die mal mit der Choreographie harmonierten, mal kontrapunktisch wirkten. In ihr spiegelten sich die durch Körper geformten Figuren. Und sie symbolisierte das konstruktive strukturelle Element der Komposition ebenso wie deren Brechungen ins Expressive.
Begehbare Raumplastiken
Das Filigrane, Schwerelose findet sich auch in den begehbaren Raumplastiken wieder, die Claudia Doderer für die Musiken kirschblüten.ohr. (2002) und fichten. (2006) von Klaus Lang geschaffen hat. Dort trifft das Prinzip der Raum modulierenden Skulptur mit dem Prinzip der Raumkonstruktion durch Schichtung und Überlagerung zusammen. Anders als in den Raumkompositionen für die Opern und Ballette wird hier die Zweiteilung von Bühnen- und Zuschauerraum aufgehoben. In kirschblüten.ohr bestand die Raumplastik aus einem zur Spirale aufgedrehten Band, konstruiert aus Aluminiumrohren, die mit schwarzem Stoff bezogen waren. Im Inneren der Spirale befand sich der Raum für die Zuschauer. In fichten. sind es rechteckige Flächen, die den Raum aufbauen – Grundform ist ein nach oben offener Quader. An den vier Seiten werden die Musiker des Orchesters positioniert, etwas erhöht und hinter mit schwarzer Gaze bespannten Flächen. Sie sind verdeckt, um die Aufmerksamkeit weg von den spielenden Musikern auf die Musik zu lenken. Es entsteht ein Innenraum, in dem die Zuhörer von der Musik umgeben sind. Der Innenraum wird vertikal von feinen Linien durchzogen, die aus verschieden starken Drahtseilen, die sich leicht gegeneinander neigen, bestehen. Wie schon bei kirschblüten.ohr. wird auch hier der Raum verdunkelt, um ihn durch eine Lichtregie einmal als Skulptur zu beleben und zu modulieren, zum anderen um die Wahrnehmung, das Hören auf die Musik, zu fokussieren. In kirschblüten.ohr und in fichten. benutzt Claudia Doderer die Bühne als einen Raumgenerator, als eine multiple Räume hervorbringende Maschinerie: Die musikimmanente Räumlichkeit der Musik Klaus Langs findet visuell-plastische Entsprechung in den begehbaren Plastiken. Die Musik selbst bildet eine weitere räumliche Schicht als akustische Projektion der musikalischen Form. In kirschblüten.ohr. war das eher eine mobile Form, die sich aus den Positionswechseln der Musiker ergab, die sich um die Spirale herumbewegten.
In fichten. ist es eine ununterbrochene Linie, gewährleistet durch die quadrophone Aufstellung der Musiker. Über diese begehbaren Raumplastiken sind die Hörer mitten in die Musik gesetzt, in den musikalischen Raum, der durch die Aufführung der Musik entsteht. Darüber wird eine weitere Schicht, die des Raum modulierenden Lichtes, geblendet. In beiden Fällen hat Claudia Doderer eine Licht-Raum-Partitur entworfen, die zwar eng auf die Musik bezogen ist, aber dennoch als eigenständiger Akteur in dieser Licht-Klang-Raumskulptur fungiert.
Mise en espace
Diese Spezifik ihrer Raum schaffenden Sprache ermöglicht nicht nur das parallele Arbeiten für das Ballett, die traditionelle Oper, das zeitgenössische Musiktheater und die zeitgenössische Musik. Sie führt auch die Gestaltung und Ausformung des Bühnenraumes in die Praxis des Inszenierens über. Denn in Claudia Doderers Raumkunst geht es immer um den Protagonisten, der im Raum agiert – die Musik, die Tänzer, die Darsteller und vor allem den Hörer, die sie in-Szene-setzt, das eigentlich ein In-den-Raum-Setzen, ein Mise-en-espace ist.
Die Konsequenz daraus ist: Im Ballett bewegen sich die Tänzer nicht mehr zu der Musik, sondern in einem – im doppelten Sinn – von der Musik gebildeten Raum, den sie durch die Choreographie ihrer Bewegungsformen flüchtig mit aufbauen oder als Ornament auszieren. Was das Musiktheater betrifft, so nimmt der durch die Musik generierte Raum den Erzähl- und Handlungsraum als zur Form geronnenen Raum in sich auf und ermöglicht so den Aktionsrahmen der zu Figuren gewandelten Protagonisten in der Musik selbst. In den gemeinsamen Projekten mit Klaus Lang wie in kirschblüten.ohr. und in fichten. werden in den jeweiligen Aufführungsort äußerst reduzierte Raumplastiken, schwerelos scheinende flüchtige Konstruktionen, implantiert, die von vornherein auf den Hörer zugeschnitten sind – mehr noch: das Hören über das Sehen inszenieren. In der Inszenierung von Raum erfüllt sich das, was nach Artaud das Theater eigentlich ausmacht, wenn man es von dem Dickicht der Dialoge, dem Geschriebenen und Gesprochenen befreit. Die Bühne wird dann zu einem körperlichen konkreten Ort, dessen Poesie sich unmittelbar durch Musik, Tanz, Plastik, Architektur und Licht – im traditionellen Theater subordinierte Mittel – ausdrückt. In der Inszenierung von Raum liegt auch Claudia Doderers eigentliche Affinität zum Konstruktivismus: In der Verknüpfung der verschiedenen Wahrnehmungsprozesse, von Sehen und Hören, mit der Formfindung. So wie das schwarze Quadrat Kasimir Malewitschs nur mit den Mitteln der Malerei und unter Einbeziehung der Funktionsweise des Sehapparates aus der zweidimensionalen Fläche des Tafelbildes heraustritt, so lässt Claudia Doderer, zeitlich begrenzt, flüchtige Räume entstehen, durch die Musik eine sichtbare Form gewinnt und in denen Tänzer, Darsteller und der Hörer ganz in der Musik aufgehen können.
aus: MaerzMusik – Festival für aktuellle Musik, Programmbuch, Berlin 2007, S.111–121.
Anlässlich der Deutschen Erstaufführung von Klaus Lang fichten. für großes Orchester und Rauminstallation, 16. bis 18. März 2017, Haus der Berliner Festspiele
Peter Ablinger
Die Geburt des Musiktheaters aus dem Geiste der Zeichnung
Was genau ist eigentlich die Arbeit – das Werk – bei einer Bühnenbildnerin wie Claudia Doderer?
Auffällig ist Claudia Doderers Gleichgültigkeit gegenüber der Realisierung – keineswegs gegenüber dem Realisieren (!), aber gegenüber dem fertigen Resultat, dem, was als natürlicher Abschluss einer Theaterproduktion angesehen wird. Die fertige Produktion ist ganz offenbar für Claudia Doderer noch nicht das ‚Werk’ sondern nur eine vergängliche Manifestation oder Interpretation desselben.
Anders gefragt: Was bleibt übrig von Jahrzehnten der Auseinandersetzung zwischen Musik und ihrer visuellen Darstellung, ihrer räumlichen oder skulpturalen Erweiterung, ihrer Überführung in Erwartungs- und Erfahrungsräume, die oft weit über die Darstellung hinausreichen und die, wenn sie – wie oft bei Doderers Neue Musik Produktionen – auch noch die Zuhörer mit einschließt in das Geschehen und in die Gestaltung des Raumes, auch das Soziale, auch den Körper nicht nur auf einer metaphorischen oder Bühnen-Ebene wirksam werden lässt, sondern als unmittelbare Teilhabe oder gar Mitwirkung.
Was bleibt also?
Abgesehen von sekundären Dokumentationsmedien wie Fotos, Programmheften und Filmmitschnitten, ist, was bleibt: die Erinnerung und die Zeichnung. Die Erinnerung ist an den Moment der Aufführung gebunden und bleibt untrennbar von der Musik, dem Stück, für welches das Bühnenbild oder auch die begehbare Installation entstanden ist.
Unabhängiger ist die Zeichnung. (Die Zeichnung! – Singular! – nicht die Zeichnungen!) Wer die Zeichnung im Plural und als bildende Kunst sieht, sieht falsch und verfehlt sie. Wer sie als Bühnenentwürfe begreift, missversteht sie aber immer noch.
Die Zeichnung ist mehr und weniger als Entwurf, mehr und weniger als unabhängige Graphik.
Sie ist mehr als der Entwurf, weil sie ein Eigenleben hat, das über die aktuelle Realisierung hinausreicht. Sie erreicht manchmal eine Art Partitur-Status, spätestens dann, wenn es verschiedene Realisierungen zu ein und demselben Entwurf gibt. Sie ist weniger als der Entwurf, weil ihr üblicherweise jegliche praktischen Hinweise über Größe, Material, Funktion etc. fehlen. Sie ist auch weniger als bildende Kunst, weil sie nicht zum Objekt, zum Artefakt, zum Einzelstück (bzw. zur Ansammlung von Einzelstücken, zum Plural einer fleissigen Kunstproduktion) tendiert. Und schliesslich ist sie mehr als bildende Kunst, gerade weil sie weniger ist, gerade weil sie ‚als Werk’ nicht vollendet ist: Sie ist dem Gedanken ähnlich, dem Geistesblitz, von dem alles seinen Anfang nimmt, aus dem alles hervorgeht. Und mit dem Geist teilt sie auch die Gleichgültigkeit gegenüber der tatsächlichen Realisierung. Mögliche Parallelen zur Konzeptkunst können hier anklingen, treffen aber auch nicht ins Schwarze.
Denn die Zeichnung muss gelesen werden wie eine Partitur. In ihr ist auch die Zeit und die Handlung, oder eine Bewegung des Lichts, die Geste eines Sängers oder Schauspielers miteingeschrieben. Die Zeichnung generiert geradezu Zeit, sie erzeugt Konsequenzen, sie führt zu etwas – manchmal, in einigen als Sequenz angelegten Folgen – zur nächsten Zeichnung, manchmal zur konkreten theatralen Handlung oder Ausführung, und manchmal zu etwas Drittem: Denn oft ist, was die Zeichnung mitteilt, nicht aus dem Dargestellten, der Farbe, der Form zu erfahren, sondern aus dem Darstellen selbst, dem Zeichnen selbst, dem Gewicht oder Druck, die der Pinsel auf das Papier ausgeübt hat, der Spur, der Choreographie, die der Bleistift vollführt hat, so als sei das Zeichenblatt kein zweidimensionaler Raum, sondern selbst eine Bühne, auf der sich etwas ereignet – vielleicht das Eigentliche!
Wenn die Zeichnung Claudia Doderers also überhaupt einer bestimmten Kunstgattung zugeordnet werden kann, dann vielleicht so: Claudia Doderers Zeichnung ist nicht bildende Kunst, sie ist auch keine Vorstufe zur darstellenden Kunst, sie ist selbst darstellende Kunst.
4/2013
Sabine Sanio
Der Raum als freie Form
Zu Claudia Doderers Bühnenbildern
Die Kunst hat ihre eigene Realität mit einer besonderen Sprache und einer inneren Logik. Diese Logik läßt sich nicht abstrakt konstruieren, sie ist nur in konkreten ästhetischen Erfahrungen zugänglich, bei denen offen bleibt, wie sehr sie zugleich unser eigenes inneres Empfinden artikulieren. Vielleicht führt genau diese Verschmelzung von subjektiver Empfindung und objektiver Konstruktion dazu, dass Claudia Doderers Räume und Bühnenbilder uns so nahegehen: Sie irritieren unsere gewohnte Raumwahrnehmung mit subtilen Akzentsetzungen, ausgesuchten Farben und einer äußerst diskreten Expressivität. Die Raumgestaltung beruht auf einer strengen Ökonomie, die immer ästhetisch begründet ist. Jedes Element hat seinen Platz und seinen genauen Sinn, nichts ist überflüssig oder bloßes Ornament, alles dient der Verdeutlichung des eigentlichen Konzepts. Der strengen Ökonomie korrespondiert eine ebenso strenge formale Konstruktion, die vor allem dazu dient, das Eigenleben der verwendeten Materialien freizulegen. Als Vorbild dient ihr John Cages Verzicht auf subjektive Expressivität, ein Verzicht, der sich als entscheidende Voraussetzung für die Entdeckung der expressiven Qualitäten der Klänge als Klänge erwiesen hat.
Immer geht es Claudia Doderer um die freie Form: In der Arbeit an den Opern des Repertoires wie in der Kooperation mit Komponisten steht die räumliche Realisierung gleichwertig neben der musikalischen. Sie komponiert den Raum, erforscht und erprobt Möglichkeiten, um ihn erfahrbar zu machen, etwa indem sie seine visuellen Implikationen freilegt oder bestimmte Perspektiven und Proportionen in Positionswechsel übersetzt. Jeden Raum, den sie gestaltet, eignet sie sich neu an; vorsichtig betrachtet sie ihn zunächst aus der Distanz wie eine Konstruktionszeichnung oder eine Partitur. Häufig integriert sie in die endgültige Realisierung eines Konzepts auch die während des Arbeitsprozesses entstandenen Skizzen und Grafiken. In ihnen sind ihre sparsamen und doch spielerischen Erfindungen sowie das komplexe Beziehungsnetz fixiert, das jedem einzelnen Element seinen subtilen Sinn verleiht. Durch Überlagerung von Konzept und Raum erreicht sie eine klare, filigrane Gliederung des Raums, die Verwendung von Schrift, Grafik und Farbe nimmt ihm seine Wucht und Monumentalität und erzeugt eine ungewöhnliche Perspektivik.
Kooperationen mit Komponisten wie dem Franzosen Gérard Grisey oder dem in Berlin lebenden österreichischen Komponisten Peter Ablinger sind für Claudia Doderer wichtige Möglichkeiten, ihre Techniken zu überprüfen und in neuen Kontexten weiterzuentwickeln. 1991 entstand zusammen mit Gérard Grisey Le Noir de l’Etoile, das von den Percussions de Strasbourg aufgeführt wurde: Die fragile, der Statik opponierende offene Zeltkonstruktion korrespondierte mit dem Sternenhimmel ebenso wie mit Griseys spektraler Musik. Als Undinischen Winkel realisierte sie 1997 im Hebbel-Theater Berlin zusammen mit der Choreographin Regina Baumgart Debussys Children’s Corner und John Cages Four Walls. Seit 1994 hat sie mehrfach mit Peter Ablinger zusammengearbeitet: Für Die weisse Litanei stellte sie einen auf den Auftritt der Sängerin zugeschnittenen imaginären Torbogen vor einen offenen Horizont. Die für das Kammerensemble Neue Musik Berlin realisierte Konzertinstallation IEAOV – Nerz und Campari beruht auf einer noch radikaleren Reduktion im Gebrauch der Mittel: eine streng geometrisch, doch in sich variabel gestaltete Sitzlandschaft und eine extrem reduzierte Lichtdramaturgie bilden einen klar konturierten Raum für Ablingers Klangfarbenkonstruktion.
Claudia Doderer verfügt souverän über die Bildersprache der russischen Konstruktivisten, daneben finden sich in ihren Arbeiten Spuren von Konzeptkünstlern wie George Brecht oder Marcel Broodthaers, mit denen sie die Vorliebe für kleine Formate, knappe Konzeptionsskizzen und schmucklose, nüchterne Bilder teilt. Entscheidend für die Art des Blicks, den diese Künstlerin auf die großen Opern der Vergangenheit wirft, sind nicht die einzelnen Errungenschaften der Malerei des 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr die in ihnen artikulierte Haltung, die sich von jedem Pathos frei gemacht hat, um sich statt dessen der Verfeinerung ihrer Mittel und der Schärfung der Wahrnehmung zu widmen. Diese Haltung zeigt sich besonders in der Entschiedenheit, mit der Doderer die expressive Gestik einer Oper zu einer klaren und knappen Linienführung verdichtet, ohne ihre Intensität zu mindern. Mit den Farben verfährt sie häufig konstruktivistisch; mit geradezu mathematischer Konsequenz ordnet sie jeder Farbe eine Figur oder ein anderes Element im Raum zu. Die Variationsmöglichkeiten dieses Konzepts hat sie verschiedentlich, etwa in der Zusammenarbeit mit dem Opernregisseur Peter Lund (z.B. La Finta Giardinera 1995, Braunschweig, Alice von 1999, Neuköllner Oper, Berlin) oder zuletzt bei Orpheus in der Unterwelt (Bremen 2000) bewiesen.
Die Perspektiven und Proportionen in ihren Räumen wirken, als wollte sie die reale Tragfähigkeit und Belastbarkeit abstrakter Konstruktionen erproben. Claudia Doderers ästhetische Logik beruht auf dem „Möglichkeitssinn“ (Musil): In unerwarteten Augenblicken erzeugt er die innere Spannung einer stillgestellten Bewegung, in der sich alles zu einer unmittelbar überzeugenden Konstellation fügt. Auf diese Weise entdecken wir Dimensionen unserer Wirklichkeit, die die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit unterlaufen; dann erweist sich die Gegenwart als offener Horizont, der die Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit selbst erst erzeugt.
Claudia Doderer
Klang- und Raumproportionen
Wind und Drachen sind voneinander abhängig, Wind bleibt ohne Drachenfiguren unsichtbar, Drachenfiguren existieren nur durch den Wind. Genauso verhält es sich mit Licht und Raum: Raum wird nur wahrnehmbar durch Licht oder Lichtbewegung, Licht wird nur sichtbar, wenn es auf Oberflächen trifft.
Tonleitern und Kaffeetasse
Ein unmittelbares Erlebnis von Klang- und Raumproportion waren meine ersten Klavierstunden. Die abgestandene bräunliche Kaffeetasse meiner Klavierlehrerin Fräulein Bittermann stand immer am Klaviaturende. Diese ockerfarbene Porzellantasse (Kegel) mit der kalten, braunen Flüssigkeit stand im Kontrast zu den einzelnen Tönen, die eine Reihe ergaben, sowohl räumlich als auch zeitlich, und denen eine Linie von bewegten, schwarzweißen Senkrechten mit glatter Oberfläche, nämlich dieTasten entsprach.
Ich erinnere mich an den Zustand begriffloser Konzentration, in den ich versetzt wurde, in der Doppelwahrnehmung von Akustischem und Optischem als gleichberechtigtem Material im Wechselspiel von Tönen im Verhältnis zu Farben, Formen und Festes im Verhältnis zu Flüssigem. Unterschiedliche Materialien wurden in meiner Wahrnehmung gleichberechtigt verknüpft.
Unter musikalisch-theatralischem Aspekt betrachtet, ist die Verknüpfung von akustischer und visueller Wahrnehmung je nach Material eine wesentliche Antriebsfeder (oder Wurzel) für musikalisches Inszenieren.
Holzarm und Feder
Auch an der Hochschule für Bildende Künste Berlin (West) hatte ich ein beeindruckendes Hör- und Seherlebnis: mein Schriftstudium bei einem Professor, dessen linker Unterarm nach einer Kriegsverletzung durch eine Holzprothese ersetzt war. Auf Din-A-Kartons mit großen, zirka acht Zentimenter voneinander entfernten Bleistiftlinien skizzierten wir mit Bleistift altdeutsche Buchstaben, bevor wir sie mit Feder und Tinte ausfüllten. Dabei schob er den Holzarm wie den einer Gliederpuppe mechanisch immer eine Zeile weiter. Diese stille mechanische Proportionslehre wurde begleitet durch den Rhythmus des regelmäßig verschobenen Holzarms und das Kratzen meiner Feder auf der rauhen Oberfläche des Schuller-Hammer-Kartons. Dieser Vorgang ist mir gleichwertig als visuelle und akustische Parallelverschiebung in Erinnerung geblieben.
Flüchtiger Raum
In Staunen über die Veränderung der Raumwirkung versetzte mich als Gymnasiastin einer meiner ersten Konzertbesuche bei den Kranichsteiner Musiktagen im Darmstadt der siebziger Jahre (Karlheinz Stockhausen, Soloperformance für eine Tänzerin, Schlagzeug und Elektroakustik). Der Ort der Performance, die funkelnagelneue Turnhalle meines Gymnasiums, war meinerseits besetzt von tiefem Widerwillen jedweden Sportgeräten gegenüber. Die minimale Raumgestaltung und der konzentrierte Aufbau der Instrumente (Schlagzeug und Elektronik) ließen die Sporthalle zu einem unbesetzten Grundriss werden. Die Performance einer unbekleideten Solotänzerin, die sich auf einer über Kopfhöhe des Publikums gespannten Gazefläche zum Klang wälzte, hob meine Aversion gegenüber der bekannten Räumlichkeit auf. Diese Performance war eine Grunderfahrung, die mir zeigte, wie durch das minimale Mittel von vier mal vier Meter Gaze eine elegante zweite Ebene etabliert werden kann, die alles vertraute umkehrt, Raum in Bewegung setzt, Blickrichtungen verändert und den Grundraum dennoch als Raster erhält.
Das Schöne und das Peinliche
Peinlichkeit erlebte ich unmittelbar bei einem Kindheitsopernbesuch von Humperdincks Hänsel und Gretel. Die Solistin des Hänsel hatte einen extremen Busenumfang, der so unglücklich durch Hosenträger hervorgehoben war, dass ich als Kind schlicht verzweifelte über diesen Betrug. Unüberwindbar die Diskrepanz zwischen dem, was dargestellt werden sollte (der ‚Bub’ Hänsel) und dem, was zu sehenwar (eine verkleidete dicke Frau). Das, was Spiel sein sollte, empfand ich als Lüge.
Genauso wie die Stockhausensche Turnhalle zu etwas anderem geworden ist, muß auch ein lebendiger Mensch, der natürlich immer ein lebendiger Mensch bleibt, trotzdem in einer Bühnensituation durch Kostüme etc. transformiert werden, um Teil einer abstrakten Bühnenstruktur werden zu können.
Oper zeichnet sich aus durch ein komplexes Verhältnis zwischen Bühnenraum und Bühnenfigur. Der lebendig agierende Mensch im Bereich der musikalischen Darstellung – nicht nur sein Erscheinungsbild, sondern auch sein Gestus – stellt für mich die komplexeste Aufgabe in der Inszenierung einer Oper in einem abstrakten Raum dar.
Viele halbszenische Anläufe im Bereich der musikalischen Interpretation, Performance oder Improvisation fand ich, verlegen, in der Form. Das scheinbare Sich-Luft-Verschaffen durch ,Nicht-Gestalten’ verfällt ins Banale oder muss dann als Konzept bestehen – was oftmals zu einem peinlichen Wettkampf mit dem Werk werden kann.
Ich glaube, daß sowohl Mozarts als auch Klaus Langs Bühnenfiguren, um zeitgemäße Formen zu finden, als Figuren gestaltet werden müssen und nicht einfach aufgrund von konzeptuellen Ideen in Strickjacken gesteckt werden dürfen.
Entwürfe für Opernkostüme behandle ich wie Räume, indem ich, von einer Grundform und/oder einer Grundfarbe ausgehend, immer weitere Schichten wie transparente Grundrisse übereinanderlege. Immer werden Klang und Geste mitgedacht.
Ich dehne und strecke die Flächen, konzentriere die Ebenen so lange, bis ich ein Extrakt von Proportionen festhalte, das in einem klaren Verhältnis zum (Bühnen)Raum steht. Dieser Prozess der Verfeinerung der abstrakten Ebenen und Schichten führt oft zu großer Reduziertheit des Entwurfes, wobei aber meistens den ‚leersten’ Ergebnissen die schwierigsten und kompliziertesten Überlegungen und die langwierigsten Entstehungsprozesse vorausgehen.
Die Sängerin in Peter Ablegers Die weisse Litanei (Aufführung Linz, Offenes Kulturhaus; Wien Modern, Mozartsaal) trug ein schwarzweißes, asymmetrisches Kostüm aus weißer Seide und schwarzem gepreßten Tuch, durch Stimme und Geste belebt. Die Bühnenbildteile, drei schiefe weiße Winkel und ein Glasobjekt, wollte mir der Veranstalter nach der letzten Vorstellung vermachen, was mir einen ungeheuren Schrecken einjagte.
Denn im Unterschied zur Installation, die sich selbst genügt und den Museumsraum, die Galerie oder den Ausstellungsraum braucht, ist ein musikalischer Raum oder ein Bühnenraum für Klang auf die visuelle Hörsituation ausgerichtet, also auf den Augenblick der Aufführung des Musiktheaters, sonst ist er wert- oder bedeutungslos. Bühnenbild ist vergänglich, möchte die Aufführung, ohne Klang atmet es nicht.
Sand und Wassertanks
Die Thematik gleichzeitiger räumlicher und musikalischer Bewegung, der Gérard Grisey und ich uns bei der Arbeit an Le Noir de l‘ Etoile stellen mussten, verlangte ein Höchstmaß an innerer Wachsamkeit. Von der Musik kannte ich nur drei perkussive Motive, die er mir mit den Fingerspitzen auf sein rechtes Knie vorgetrommelt hat, eine angefangene Partiturskizze und vor allem seine Gedanken über Raum. Er suchte eine Visualisierung für dieses Projekt. Im Zug von Brüssel nach Paris schnitt ich mit der Nagelschere verschiedene Rhomben, verzerrte Dreiecke, quasi Zeltsplitter aus. Ich suchte nach Formen, die die Aufmerksamkeit nicht von seinen Klangrotationen ablenken, sondern im Gegenteil eine solche Aufmerksamkeit ermöglichen sollten.
Das Ziel war eine reisefähige Konstruktion mit minimaler Aufbauzeit und einer Ellipse aus Sand als Grundriss. Die in asymmetrische Segmente aufgeteilten Zuschauerblöcke waren umgeben von den sechs Schlagzeugern. Die den Statiker auf den Prüfstein stellenden, zehn Meter hohen, windschiefen Fahnenstangen, welche die geometrischen Segelsplitter trugen, überragten alles. Es entstand eine fragile und flüchtige abstrakte Form in zehn Meter Höhe über einer Fläche aus Sand: Eine unaufdringliche Raumstruktur, die nur durch Licht wahrnehmbar, immer ein Balance-Akt zwischen ästhetischem Zugriff und gleichzeitiger Zurücknahme war. Parallel zur Musik gab es einen Lichtzyklus, der zwar zeitlich an den Musik-Click-Track gekoppelt war, aber trotzdem selbständig ablief.
Der technische Aufwand war so ungeheuerlich, dass in der Nacht vor der Aufführung in der Sporthalle von Huddersfield (England) sämtlicher Strom ausfiel. Die mit einem Statiker und Architekten konstruierten Wassertanks, die den Fahnenstangen als Gegengewicht dienten, wurden mit Spezialpumpen nach jeder Aufführung geleert.
„Kristalle sind eine Art Grenzsituation. Ich habe einen Aufsatz von einigen russischen Wissenschaftlern gelesen, die behaupten, dass die Lösung um einen Kristall herum schon kristalliner Form ist, sogar schon bevor das gelöste die Lösung verläßt, um Teil des festen Kristalls zu werden, und so gibt es da ein unbestimmtes Feld um den Kristall herum, das mir nah an ein Paradoxon zu kommen scheint, auch wenn es nicht selbst widersprüchlich ist. Oder vielleicht ist es doch. Wann ist einKristall ein Kristall?«1
Bretterdiagonale
In der Kammeroper … über Ursache und Wirkung der Meinungsverschiedenheiten beim Turmbau zu Babel … von Schlippenbach/Johansson (1989) wurde Musiktheater als extremes Spannungsfeld zwischen gestalteter, strukturierter Zeit und ungeordneter Anhäufung von Materialien betrachtet. Als Bühnenbild wählten die Autoren die Anhäufung von visuellem und akustischem Material: Baumaterial, Sand, Steine, Zementsäcke, Zementmischmaschinen etc.
Für die Wiederaufführung 1994 im Hebbel-Theater in Berlin korrespondierte ich mit Fritz Rahmann (Büro Berlin). Wir schafften Platz, indem wir die Bühne durch eine Diagonale in zwei Hälften teilten: Alles Material kam auf eine Seite der Diagonale, um auf der anderen Seite eine größtmögliche freie Fläche mit einem Sog der Linie ins Parkett zu erhalten. Diesem räumlichen Ordnungsprinzip entsprechend entwickelte ich eine von der Musik unabhängige Zeitstruktur der Lichtveränderungen.
„Der Modus der Rezeption – Betrachten und Auswählen – wird durch das Ready-Made zum Modus der Produktion erhoben. Der Künstler wechselt die Seite, er wird vom Schöpfer zum Betrachter, der – statt etwas Neues zu schaffen – eine neue Sichtweise für etwas schon Vorhandenes findet.«2
Für meine Sichtweise von Theater und vom Verhältnis zwischen Gestalter und Publikum war Duchamps Denken maßgebend. Ich ordne erst leere Flächen, schaffe Raumstrukturen, ordne den Figuren Orte zu, verschiebe, dehne die Grundrisse wobei ich den Moment der Fixierung des Grundrisses so lange wie möglich hinauszögere.
Um einen Raum zu entwerfen, spiele ich mit verschiedenen geometrischen Grundformen, überlagere diese, schaffe räumliche Überschneidungen, wobei ich das Einfallen von Licht in verschiedenen Winkeln immer mitdenke. Genauso wichtig oder sogar noch wichtiger ist das Reduzieren, das Weglassen: Manchmal bleiben nur die Schnittlinien stehen, als wäre es eine räumliche Maßanfertigung.
Sicherlich ist George Brecht mir nah, mit seiner „structur of experience“, mit seinen Stille-Raum-Zeit-Gebilden, mit seiner stillen inneren Beweglichkeit, dem Schmunzeln, den unaufwendigen Formaten. So wenig wie möglich zu tun ist das Schwierigste.
Ich suche in meiner Arbeit Distanz zu mir selbst, suche Gehäuse, die öffnen, suche flüchtige Raumstrukturen. Ich bin immer auf der Suche nach dem Minimum künstlerischer Form. Östliche Denkweisen haben sich eher lautlos oder unmerklich bei mir eingeschlichen.
Nerz und Campari
Fließende Übergänge von Kunst zu angewandter Kunst finde ich am Schönsten. Peter Ablingers ‚Stücke’ aus der Reihe IEAOV suchten einen Ort, einen Ort, sich aufzuhalten. Unsere gemeinsame Arbeit Nerz und Campari ist vielleicht die einzige Arbeit in Installationsnähe. Fläche, Linie und Quadrat sind die geometrischen Grundformen, die sowohl für die musikalische Komposition als auch für die räumliche Gestaltung und die Lichtstruktur maßgebend waren.
(Die gewöhnlichen Namen für Tempera, HKS Malfarben gibt es im Musterkatalog Kunstleder nicht, da steht statt cremeweiß und rubinrot: Nerz und Campari – eine der schönsten Weisen, Titel zu finden.)
B4
Die strengste Instanz auf Bühnen ist die Feuerwehr, nicht wenn Chor und Solisten auf der Bühne agieren, sondern wenn Zuschauer die heiligen Gefilde betreten. Die Produktion kirschblüten. ohr. mit Klaus Lang war eine Meisterprüfung im Sammeln von schwer entflammbaren Materialien (= B4), von Feuerwehrbekleidungsstoffen über Heißluftballongewebe und Kupfergaze bis hin zu Metallgewebe.
Obwohl der Komponist Lang zur Strukturierung mit klaren, strengen Zahlenproportionen arbeitet, ist das klangliche Ergebnis ein ungreifbarer Schwebezustand. Mein Ausgangspunkt sind nicht Zahlen, sondern empfundene Proportionen, die ich im Laufe der Arbeit an Modellen auf konkrete Maße zurückführe.
Licht
Wind und Drachen sind voneinander abhängig, Wind bleibt ohne Drachenfiguren unsichtbar, Drachenfiguren existieren nur durch den Wind. Genauso verhält es sich mit Licht und Raum: Raum wird nur wahrnehmbar durch Licht oder Lichtbewegung, Licht wird nur sichtbar, wenn es auf Oberflächen trifft.
Mein nächstes zeitgenössisches Musiktheaterprojekt mit dem Arbeitstitel fichten. horizonte. in Zusammenarbeit mit Klaus Lang ist für das musikprotokoll im steirischen herbst 2003 geplant und wird in Kooperation mit dem Festival für aktuelle Musik MaerzMusik 2004 im März auch in Berlin aufgeführt. Grundbedingungen der gemeinsamen Arbeit hat Klaus Lang in seinem Exposé zu dieser neuen Arbeit u.a. so formuliert:
„Das Hauptcharakteristikum von fichten. horizonte. ist völlige Konturlosigkeit, sowohl optisch als auch akustisch. Es ist wie ein Eintauchen in eine große zäsurlose Licht- und Klangfläche, in der es immer Licht, immer Klang, keine Dunkelheit, keine Stille gibt. Die einzigen wahrnehmbaren Umrisse von fichten. horizonte. sind der Beginn und das Ende, alles andere verschmilzt eigentlich zu einer Fläche oder einem riesigen Punkt. fichten. horizonte. könnte man sehen als nichts anderes als die größtmöglich vergrößerte ‚Innenansicht’ eines Impulses. So gesehen, enthält der einzelne Schlagzeugimpuls aus kirschblüten. ohr. fichten. horizonte. als Ganzes. Das Große ist eigentlich Teil des Winzigen.
Musikalisch könnte der Horizont als die Grenze des Hörbaren definiert werden, als die Linie, welche die Stille vom Klang trennt oder als der Ort, wo beide sich treffen. Das musikalisch Weiteste und Größte ist zugleich das Kleinste, das Leiseste. Die Musik zu fichten. horizonte. ist nichts als ein einziges riesiges Glissando in allen Parametern.“
Man müsste Prozesse am Leben erhalten, weitere Erfahrungen in erneuten Aufführungen sammeln, nicht dem Ring abbrechen, wo das Vorspiel gerade mal verklungen ist. Nicht nur das ‚Ewig-Neue’, sondern Oper zum zweiten Mal neu. Wiederholung ist ein Motiv, das ich in der Gegenwart sehr vermisse.
1 George Brecht im Gespräch im Henry Marlin 1978, in: Jenseits von Ereignissen, Katalog Bern 1978
2 Dieler Daniels, Duchamp und die Anderen, Köln: DuMonI1992
In: positionen. Beiträge zur Neuen Musik, 55, Mai 2003, S. 26–29