kirschblüten.ohr.

Musiktheater für 4 Schlagzeuger, 2002

Klaus Lang
MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik
Konzept: Klaus Lang, Claudia Doderer
Musik: Klaus Lang
Raum: Claudia Doderer
mit dem Studio Percussion Graz
Premiere: 7. März 2002, Hebbel-Theater Berlin

Sabine Sanio
kirschblüten.ohr.

Das Musiktheater gilt als klassisches Genre für die Integration der Künste, sei es im Sinne von Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Idee, sei es im Sinne einer Kunst „für Augen und Ohren“, wie sie seit Cages Konzept eines erweiterten Theaters Verbreitung findet. Klaus Lang und Claudia Doderer gehen bei kirschblüten.ohr. dagegen von der Einsicht aus, dass sich diese Integration bei näherem Hinsehen als diffiziles Ineinander disparater Elemente erweist; mehr oder weniger bewusst wechselt jeder Rezipient ständig zwischen Hören und Sehen hin und her, um in einem Augenblick dem Klang, im nächsten dem Bild seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Diese Überlegung bildet den Ausgangspunkt für eine ungewöhnliche Kooperation: Statt einen weiteren, zum Scheitern verurteilten Versuch der Verschmelzung von Bild und Klang zu unternehmen, legen sie das audiovisuelle Geschehen unter das Mikroskop und lösen Klang und Bild aus dieser Verbindung, so dass jedes von ihnen seine eigene Erscheinungs- und Wirkungsweise ungehindert entfalten kann. Diese Idee strukturiert die gesamte Aufführung; Klang und Licht werden durch die mikroskopische Untersuchung voneinander getrennt und verhalten sich im Hauptteil streng komplementär zueinander: Es ist völlig dunkel, solange die Musiker spielen, doch sobald sie schweigen, leuchten im Raum verteilt zarte Lichter auf.

kirschblüten.ohr. versetzt das Publikum in das eigene Ohr, um dort das Hören unter mikroskopischen Bedingungen zu entdecken. Alle Komponenten des Stücks lassen sich auf diese Situation zurückführen: Für das Trommelfell sowie für die schwingenden Oberflächen des runden und des ovalen Fensters des Gehörs stehen drei Fellinstrumente – Bongos, Pauken und Große Trommel –, für den metallischen Charakter der Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel dagegen Zimbeln, Becken und Gläser. Dem Konzept der Mikroskopierung entsprechend ist die Musik wie in Zeitlupe gedehnt, jeder Klang zerfällt in einzelne Schwingungen. Die sich dabei ergebenden rhythmischen Impulsfolgen wurden aus den Schwingungsmustern der einzelnen Instrumente errechnet.

Die Aufführung beginnt, sobald das Publikum den Raum betritt, und endet, wenn es ihn wieder verlässt. Die Sitzplätze befinden sich mitten auf der Bühne, im Innern eines abstrakten spiralförmigen Raumkörpers, der den Blick auf einige wenige ungewöhnliche Perspektiven beschränkt. Sobald alle Platz genommen haben, beginnt der eigentliche Hauptteil. Bis auf die kurzen Momente der Stille herrscht nun fast völlige Dunkelheit. Die Instrumente sind um das Publikum herum verteilt, mehrfache Positionswechsel der Musiker suggerieren drei verschiedene Klangbewegungen durch den Raum. Drei verschiedene Lichtquellen dienen dazu, den Raum und den Raumeindruck zu verändern; im Wechselspiel von Licht und Schatten erzeugen sie neue Perspektiven oder betonen bestimmte Durchblicke durch den filigran konstruierten Spiralkörper. All dies lässt sich von innen jedoch nur bedingt erkennen, das Publikum ist eingekapselt in seinem Gehäuse, die Mikroskopierung scheint den Weg, den Klang und das Licht bis an unsere Sinnesorgane zurücklegen, ins Unendliche zu dehnen: So selten das Licht aufleuchtet, so zart ist es auch; und fast ebenso zart wie das Licht ist die Musik, sie dringt nur gedämpft und wie aus weiter Ferne ans Ohr.

Weil Klang, um wahrgenommen zu werden, mehr Zeit benötigt als Licht, sind die zeitlichen Proportionen im Verhältnis von 3:1 zugunsten des Klangs verschoben; kurze Momente von Stille und Licht gliedern den Hauptteil in drei unterschiedlich lange musikalischen Passagen. In ähnlicher Weise werden in allen Teilen drei Fell- oder Metallinstrumente mit einem Instrument der anderen Gruppe kombiniert. So dominiert im Einleitungs- und Schlussteil mit geriebenen Gläsern sowie gestrichenen Zimbeln und Becken ein stehender, raumfüllender Klang, der nur durch die Große Trommel kontrastiert wird. Im Hauptteil dagegen entstehen durch die mit den Fingern geschlagenen Bongos und Pauken sowie die Große Trommel punktförmige, zu Linien im Raum angeordnete Klänge, die durch einige wenige Einwürfe von Metallinstrumenten ergänzt werden.

Doderer und Lang verzichten darauf, die Idee, das eigene Innenohr zu betreten, allzu wörtlich zu nehmen. Dem abstrakten Gehäuse sieht man kaum an, dass es einem übermäßig vergrößerten menschlichen Innenohr nachempfunden ist, es könnte ebenso gut einen nach innen gewendeten Tatlinschen Turm oder eine sich auflösende Barockschleife darstellen. In seinem Innern platziert, gehört das Publikum, ohne es sofort zu realisieren, zusammen mit den Musikern und Beleuchtern zu den Akteuren des Stücks. Zusammen mit der konsequenten Trennung von visuellen und akustischen Vorgängen ergibt sich an der Grenze zur völligen Dunkelheit und zum völligen Verstummen eine komplexe Wahrnehmungssituation, in der die gewohnte, ständig zwischen Hören und Sehen ablaufende Feinabstimmung kaum noch möglich ist. Der strenge Wechsel bietet statt dessen die Gelegenheit, sie miteinander zu verbinden oder womöglich sogar miteinander zu vertauschen, um dem Schweigen ebenso wie der Dunkelheit zuzuhören, die Klänge als Lichtpunkte und die Lichter nicht als Unterbrechung, sondern als Fortsetzung der Musik zu erleben.

Die knappe, klare und übersichtliche Anlage des Stücks verhindert, dass die Intensität der Situation als Überforderung wirkt und in Ermüdung und Frustration umschlägt. Die wenigen Klänge und Lichter bilden zaghafte und vorsichtige Orientierungspunkte gegen die Bedrohung durch Dunkelheit und Stille. Sie verhindern, dass wir mit dem Kontakt nach draußen auch das Gefühl für uns selbst verlieren, für den Raum, in dem wir uns befinden, und die Zeit, die gerade vergeht. Sie bieten sich nicht nur als Gegenstände für unsere Wahrnehmung an, sie bieten auch nicht einfach nur die Möglichkeit, uns unserer Wahrnehmungsfähigkeit zu versichern. Vielmehr machen sie die Undurchdringlichkeit der Dunkelheit sichtbar und lassen die Stummheit – oder die Verschwiegenheit? – der Stille an unser Ohr dringen.

Text aus dem Programmheft Hebbel-Theater Berlin 2002

 

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